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zum Arbeitsfeld Kultur & Management

Es hat auf Anhieb allen eingeleuchtet. Erbprozent Kultur – eine Zwischenbilanz

Die Idee ist einleuchtend und provozierte kaum politischen Gegenwind. Die Stiftung Erbprozent Kultur generiert Kulturfördergelder über freiwillige Vermächtnisse: Wem immer die Idee gefällt, nach Ableben 1% des eigenen Vermögens der Kultur zukommen zu lassen, kann dies in die Wege leiten. Die Zivilbevölkerung wird zur Förderinstanz: ein Erfolgsmodell? Isabel Zürcher unterhielt sich mit Esther Widmer, Geschäftsführerin.

 

Isabel Zürcher: Wenn alle Schweizerinnen und Schweizer 1 % ihres Erbes dem Kulturschaffen hinterlassen würden: was wäre anders in diesem Land?

Esther Widmer: Ich glaube, wenn wir wirklich in die Breite gehen könnten und es eine Selbstverständlichkeit würde, dass Kultur zum Leben gehört wie ein Grundnahrungsmittel. Eine ideale Gesellschaft ist auch eine solidarische Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, etwas vom Eigenen in einen gemeinsamen Topf zu werfen. In der Regel erbt man, wenn jemand stirbt. Das macht es auch so schwer – und auch darum ist «erben» ein grosses Tabuthema. Wenn man «erben» sagt, dann ist Tod mitgedacht. Man denkt nicht über Erben nach, weil man auch nicht über Sterben nachdenkt. Diese Engführung würde ich gerne aufbrechen wollen, damit man die Freiheit hat, sich zu überlegen: Was mache ich jetzt mit dem Geld – und wie verteile ich es um? Oder: Wie kann ich es weiterverschenken? Erben soll nicht nur eine innerfamiliäre Sache sein. Wenn Kultur in diesem Zusammenhang zum Thema würde, hätten wir wohl intensiver mit nachhaltig verbindenden Werten zu tun.

Die Stiftung Erbprozent gibt es nun seit bald fünf Jahren. Wie kam es zu dieser Idee?

Das Festival «Kulturlandsgemeinde» stand 2015 unter dem Titel «Wir erben – wir Erben». Das war im Jahr der gesamtschweizerischen Abstimmung zur Erbschaftssteuer. Eine Arbeitsgruppe widmete sich im Vorfeld der Frage, wie das Festival Geld generieren könnte. Dabei entstand diese Idee. Margrit Bürer war als langjährige Leiterin der Abteilung Kultur in Appenzell Ausserrhoden eine treibende Kraft gemeinsam mit der Gründungspräsidentin und ehemaligen St. Galler Regierungsrätin Kathrin Hilber.  An der «Kulturlandsgemeinde» selbst gingen dann die ersten vierzig Erbversprechen ein. Und nachdem der Kanton AR mit einem substanziellen Beitrag vorausgegangen war, zogen fast alle anderen Kantone der deutschen Schweiz nach. Die Finanzierung des Aufbaus war gesichert.

Die Stiftung Erbprozent fördert Kultur unter besonderen Vorzeichen: Es geht nicht um Projektförderung, es geht um ein möglichst breit abgestütztes Umverteilen von Guthaben zu Gunsten von heutigem kreativem Schaffen.

Tatsächlich fördern wir keine Projekte und bearbeiten keine Finanzierungsanträge. Wir machen Förderung im Sinne von Vertiefung. In Zusammenarbeit mit den Erbversprechenden wurden fünf Fördergefässe entwickelt. U.a. das Gefäss «Raum und Zeit». Da erhält eine Theater-, einer Tanz-Compagnie oder Musikband einen Beitrag in Höhe von CHF 25’000 bis CHF 35’000, um genau nicht auf Tournee zu gehen, um nicht ins Studio zu gehen, nicht eine neue Produktion zu entwickeln. Es gibt nichts abzuliefern und auch sonst keine Auflagen. Wenn Erbprozent Kultur auch die Pause möglich machen will, ist das eine Antwort auf eine Problematik im System: Es gibt immer weniger Gruppen oder grössere Formationen, die über längere Zeit zusammenarbeiten können, unter anderem, weil die Regenerations- und Entwicklungsphasen nicht finanzierbar sind. Wir haben ganz allgemein eine Überproduktion festgestellt, und das meinen wir nicht wertend: Es gibt wahnsinnig viel, weil die Gruppen nur über Projekte finanziert werden. Ganz wenige erhalten Strukturförderung, das heisst einen Beitrag über mehrere Jahre.

Ein anderes Ziel gilt der Vergrösserung oder Diversifizierung des Publikums.

Das Publikum ist eigentlich das Schwierigste. Hier wird allgemein viel gemacht, wobei Erbprozent Kultur nicht auf Schulklassen setzen will – diese sind die Adressaten anderer Vermittlungsprojekte. Die Gruppe «Beweggrund» arbeitet mit Kindern mit und ohne Beeinträchtigung. Wir haben unterstützt, dass sie ein Festival ohne Eintritt realisieren konnten und dass vor allem auch Familien mit prekären finanziellen Verhältnissen Zugang zu eigentlich zahlungspflichtigen Workshops bekamen.

Es gab – und gibt? – die Hoffnung, dass Erbprozent Kultur wachsen und mehr und mehr Kulturfreundinnen und -freunde ein Prozent ihres späteren Erbes in Aussicht stellen. Was ist die Bilanz nach bald fünf Jahren?

So einfach und einleuchtend das Erbprozent klingt: Der Akt, sich wirklich zu entscheiden und das Formular auszufüllen, ist eine grosse Hürde. Denn wer ein Versprechen über 1 % seines Erbes machen möchte, muss sich auch über die restlichen 99 % Gedanken machen. Dann folgen andere Fragen und innerfamiliäre Konflikte oder Tabus kommen sofort auf den Tisch. Es ist auch nicht so, dass Erbversprechende ohne weiteres in ihrem Umfeld über ihren Entscheid reden. Wir haben jetzt 120 Erbversprechen. Gemessen an den 40 vom Anfang ist das ein sehr, sehr langsames Wachstum. Wir stellen uns auch in der Kommunikation in Zukunft sicher die Frage, wie wir damit umgehen, dass das Wort «Erbe» sehr schnell mit Reichtum verwechselt wird und sich viele allein deshalb nicht angesprochen fühlen. Ohne die sogenannten Vorlassgebenden –Menschen, die der Stiftung schon zu Lebzeiten etwas gegeben haben hätten wir mit der Förderung gar nicht anfangen können.

Wer sind denn die Erbversprechenden?

Sie sind zwischen 29 und 80. Darunter befinden sich sehr viele Junge, wahrscheinlich weil diese flexibler mit Veränderungen und unverkrampfter mit Finanzen umgehen. Es ist eine riesige Arbeit, gezielt Leute und auch Institutionen zu adressieren. Über Geld wird nachgedacht, wenn jemand zum Beispiel die Pensionierung plant und überlegt, welches Kapital wohin geht und was neben der Rente bleiben soll. Dann macht man sich über Spenden Gedanken und über die Optimierung von Steuern: Hier landen viele bei der Krebsliga oder bei der Berghilfe – an Kultur generell denken wenige. Und wenn, dann vermachen sie ihrem Theater oder Museum oder der Musikgesellschaft ein Legat. Als Stiftung der Zivilgesellschaft müssen wir uns immer wieder auf unsere Raison d’être besinnen: Es geht darum, dass möglichst viele Leute ein Erbversprechen machen und wir den Schneeball ins Rollen bringen. Die Höhe des zu vererbenden Vermögens spielt erstmals gar keine Rolle.

Erbprozent Kultur operiert, wenn auch als Stiftung, so doch auch in Anlehnung an genossenschaftliche Modelle: Erbversprechende können sich als Scouts in die Tätigkeit der Stiftung einbringen. Ist Mitwirkung zu Lebzeiten eine Motivation?

Im Fördergefäss «Wahlverwandtschaften» können Erbversprechende Kulturschaffende empfehlen und ihnen so den Weg ebnen zu einem selbstgewählten Mentor oder einer Mentorin. Es sind aber sehr wenige, die sich hier einbringen. Wir müssen herausfinden, wie wir es anstellen, dass das Dazugehören nicht behaftet ist mit Befangenheit, Irritation oder dem Beigeschmack von «das ist etwas für Vermögende und ich bin nicht mitgemeint.» Dass Erbprozent Kultur  als eine Community wahrgenommen wird die zum „Lifestyle gehört, Spass macht und die Kultur in der ganzen Breite fördert.

Interview: Isabel Zürcher