Das Festival Culturescapes hat schweizweit Kulturproduktionen vor allem aus Ländern Osteuropas, aber auch aus Asien in die Schweiz gebracht. Neu stehen ab 2021 vier Weltregionen und globale Fragestellungen im Fokus. Der Gründer und Festivalleiter Jurriaan Cooiman erläutert den Richtungswechsel und die allfälligen Konsequenzen für unseren Kulturbegriff.
Isabel Zürcher: Die Covid-Pandemie mit allen Reisebeschränkungen muss ein Festival wie Culturescapes hart treffen: Was macht die aktuelle Situation mit der Planung der Ausgabe 2021?
Jurriaan Cooiman: In unserem Zweijahres-Rhythmus war 2020 geplant als ein Jahr der Recherche. Nun liegt vieles auf Eis oder ist auf digitale Kommunikationskanäle verschoben. Meine bisherigen Reisen ins Amazonas-Gebiet sind eine Grundlage für Online-Konferenzen, aber neue Recherchen brauchen die Erfahrung vor Ort, brauchen den direkten Austausch und Begegnungen. Die können wir jetzt nicht angehen. Wir mussten Kurzarbeit anmelden und eine reduzierte Wertschöpfung hinnehmen. Nach meiner Einschätzung dürften vor allem Einschränkungen im interkontinentalen Verkehr noch eine ganze Weile andauern. Deswegen arbeiten wir parallel an mehreren Szenarien – bis hin zu einem Plan B, wenn das Festival gar nicht stattfinden könnte. Wir haben in der ganzen Corona-Zeit einen intensiven Kontakt gehabt mit vielen weiteren Festivals innerhalb der European Festival Association EFA. Vier Hauptpunkte der Sorge und Zielsetzungen um Festivals kamen da zur Sprache: Wie werden die Festivals und ihre Teams das überleben? Werden die Künstlerinnen und Künstler, wenn schon gebucht, bezahlt und solidarisch behandelt? Steht man intensiv mit seinem Publikum in Kontakt? Informiert und erläutert man den Sponsoren usw. den Stand der Dinge? Für mich habe ich dann ergänzt: Was passiert im Kopf der künstlerischen Leitungen? Ergeben sich neue Fragen und Praxen aus der Krise?
Culturescapes hat das Schweizer Publikum mit Produktionen aus Ländern und Regionen wie Georgien (2003), Armenien (2005), Aserbaidschan (2009) oder dem Balkan (2013) vertraut gemacht. Entsprechen diese Orte einer Liste von persönlichen Wunschdestinationen?
Mein anfängliches Anliegen war, die Länder hinter dem Eisernen Vorhang besser (oder: überhaupt!) auf der Karte zu platzieren. Ein persönliches Interesse an den blinden Flecken im ehemaligen Osten war da sicher ausschlaggebend. China (2010) war dann ein Wendepunkt: Wir merkten, dass das eigentlich ein viel zu grosses Terrain war. Daraufhin konzentrierten wir uns mit Moskau (2012) und Tokyo (2014) auf urbane Zentren. Island, Griechenland und Polen – alles wirtschaftlich und/oder politisch geschüttelte Länder – waren als Folge angelegt, um Europa als Grossregion mit allen Spannungen in den Blick zu nehmen
Via Kulturereignissen hat Culturescapes immer wieder Gegenwartsanalysen geboten und versuchte gleichzeitig, Kunst und Kultur aus einem bestimmten Mentalitätsraum, einer sozialen und politischen Situation zu erschliessen. Inzwischen steht mit «Amazonas» für 2021 eine Weltregion im Fokus. Ist das Format des «Länderporträts» ein Auslaufmodell?
Ja und nein. Länder sind Teil des Problems, das die Welt als Ganzes hat. Restriktionen, Kanonisierungsmassnahmen, auch die Förderung von Kultur im besten Sinn wird national angegangen. Weil aber die Verknüpfung zwischen Kulturproduktion und den jeweiligen politischen Bedingungen überall stark ist, kann immer noch einiges für den Fokus auf einzelne Länder sprechen. Für mich wären zum Beispiel Schwerpunkte zum Iran oder zum Jemen nach wie vor spannende Herausforderungen. Als wir dann mit dem Stiftungsrat die prioritäre Orientierung an nationalen Kontexten verabschiedeten, merkte ich zu meiner eigenen Überraschung, dass ich erleichtert war. Mein Fernglas ist jetzt anders eingestellt, unsere neue Fragestellung betrifft ein Gesamtsystem, wo Leben sich abspielt. Die Reflexionen darüber und der Beitrag von Kunst und Kultur werden auch unseren Kunstbegriff erweitern. Seitens Culturescapes werden wir nicht mehr prioritär die Frage nach Herkunft im Blick haben, sondern thematisch sondieren.
Für Herbst 2021 soll der Grossraum des Amazonas in den Fokus rücken. Culturescapes steuert unter Beteiligung von Partnern aus mehreren Ländern globale Fragestellungen an. Was oder wer hat diesen neuen Fokus herausgefordert?
Wir nehmen uns tatsächlich in längerfristiger Perspektive vier Weltregionen und gleichzeitig vier Biosphären vor. Auf «Amazonas» (2021) folgt «Sahara» (2023), «Himalaya» (2025) und schliesslich «Ozeane» (2027). Damit haben wir etwa in Afrika die grosse Verschiebung von Klimazonen im Blick. Weit entfernt von ihren Quellen tragen die grossen Flüsse aus dem Himalaya den Dreck aus Millionenstädten in die Weltmeere. Eine Frage wird sein, wie der steigende Wasserpegel das Leben auf ganzen Inselstaaten bedroht. Diese Motive sind miteinander verbunden, wiederholen sich oder haben je nach Perspektive andere Konsequenzen. Das wird Culturescapes auch vor dem Hintergrund einer postkolonialen Vergangenheit beleuchten.
Mit dem Tenor von einschneidenden globalen Veränderungen beruft sich Culturescapes auf den ersten Blick also weniger auf lokal verwurzelte Traditionen als auf den oft raschen und bedrohlichen Wandel von Lebensbedingungen auf unserem Planeten. Welche Rolle spielt hier die künstlerische Auseinandersetzung?
Das ist eine grosse Frage: Machtstrukturen, Traditionen, die Veränderungen von Klima und Gesellschaft können sich von kulturellen Werten nicht befreien. Ein Umbruch bahnt sich zum Beispiel an, wenn die Länder im Amazonas mit natürlichen Ressourcen ganz unterschiedliche Wege gehen. Leute aus dem Hochland Boliviens bauen neuerdings in den Tälern die Landwirtschaft auf, womit sich andere Eigentumsverhältnisse etablieren. Bürgerkriegsähnliche Zustände bildeten für den Regenwald in Kolumbien lange einen indirekten Schutz. Zur Zeit der hohen, bedrohlichen Kriminalität hat Angst den Abbau in Schranken gehalten. Mit dem Friedensabkommen ist das Naturreservoir neu und akut bedroht. Ganz allgemein beobachten wir, dass unser (einseitig) naturwissenschaftlicher Habitus in Frage steht. Worauf basiert unsere Weltanschauung, während bei indigenen Völkern – wie es Yanomami Shaman Davi Kopenawa in seinem Buch beschreibt – der ‘Himmel auf die Erde fällt’? Wo ein Umbruch Veränderungen provoziert, reagieren Kulturschaffende auch oft als erste. Zahlreiche, international wahrgenommene Kulturereignisse, unter ihnen die documenta in Kassel, haben in den letzten Jahren indigene Stimmen hörbar gemacht. Die Reflexion von Welt aus der weissen Kunstsicht kann auf globale Probleme nicht die einzige Antwort sein. Es ist für uns herausfordernd und ein Stimulus, Künstlerinnen und Künstler, die von Krisen am stärksten betroffen sind, nicht verschwinden zu lassen.
Im Herbst 2021 stehen «Treffen, Forschungen und Workshops» in Aussicht. Wie dürfen wir uns das vorstellen?
Wir nutzen grössere Treffen vorerst in der Vorbereitung, um mit mehreren Leuten in Verbindung zu stehen. Damit nicht eine ‘Shopping-Mentalität’ entsteht und wir mit dem Einkauf bestehender Produktionen den kolonialen Habitus weiterschreiben, testen wir andere Möglichkeiten. Wo immer wir sind: Wir lernen von ihnen, sie lernen von uns. Wir rechnen damit, dass die Inhalte in Zukunft anders anzupacken sind. Und dass Culturescapes in Zukunft auch ein digitales Kapitel führen wird, in dem Inhalte über einen grösseren Radius gestaltet werden können. Interessant ist doch, dass es nicht Künstler, Kuratorinnen oder leitende Gremien von Forschungsinstituten gewesen sind, die die digitalen Möglichkeiten so intensiv eingefordert haben. Corona hat den grösseren digitalen Raum erschlossen. Einige Best Practice-Formate können sicher beibehalten werden.