Wohin geht’s? Positionen und Beiträge
zum Arbeitsfeld Kultur & Management

Das «lernende Museum». Experiment und Risikobereitschaft in der kuratorischen Praxis

 

Im Winter 2020 nimmt in Berlin das Humboldt Labor seinen öffentlichen Betrieb auf: Die Ausstellungsräume der Berliner Humboldt-Universität im Humboldt Forum. Der neue Ort der interdisziplinären Debatte über Fragen unserer Zeit lässt sich inhaltlich sowohl von einer Vielzahl an Partner*innen aus der universitären Forschung als auch von der Arbeit mit den Sammlungen der Universität herausfordern. Dr. Friedrich von Bose, Stellvertretender Leitender Kurator, reflektiert Handlungsspielräume von Museen vor dem Hintergrund ihrer kolonialen Vergangenheit und aktuellen gesellschaftlichen Verantwortung.

 

Isabel Zürcher: Museen stehen heute unter erheblichem Konkurrenzdruck angesichts anderer Freizeit- und Kulturangebote. Gleichzeitig bleiben sie Foren der Bildung, Forschung und Vermittlung. Welche gesellschaftliche Rolle weisen Sie heute dem Museum im Allgemeinen und dem ethnologischen Museum im Besonderen zu?

Friedrich von Bose: Das Potenzial von Museen ist zuerst die enge Verbindung von Forschen und Ausstellen. Mich interessiert dabei besonders die Verschränkung zwischen beidem, so auch, wie die Praxis des Ausstellens wiederum Forschungsfragen verändert und neue generiert. Das Medium Ausstellung zeichnet gegenüber anderen Formaten natürlich aus, dass es Themen und Fragestellungen in einem räumlichen Setting zu bearbeiten vermag. Dabei ist es ganz an den BesucherInnen, wie sie sich zu diesem Angebot verhalten, worauf sie sich einlassen möchten und in welchem Tempo, was sie auslassen – oder ob sie nicht überhaupt zuerst ins Café gehen möchten. Die Ausstellung ist ein Format, das durch Kontraste und Entgegensetzungen im Raum Neues schafft. Sie kann Selbstverständlichkeiten hinterfragen, Kontroversen initiieren und vermeintliche Evidenzen hinterfragen. Und das alles ist natürlich besonders wichtig für ethnologische Museen mit ihrer kolonialen Geschichte und ihrer historischen Komplizenschaft in der Herstellung und Tradierung kolonialer Bildwelten. Klassifizierende Kategorien, die Trennungen in «wir» und «die Anderen», mit denen wir allzu oft in unserem eigenen Alltag operieren, sind von Museen mit erschaffen worden. Diese gilt es zu hinterfragen, zu kritisieren, zu unterwandern.

Überhaupt sind Museen als öffentliche Einrichtungen aus meiner Sicht in der Pflicht, sich zu positionieren, zu ihrer eigenen Geschichte wie auch zu aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen und Ereignissen. Und darin müssen sie eine ganz neue Relevanz entfalten. Ich schreibe dies am 4. Juni 2020, dem Jahrestag des Tian’anmen-Massakers und eine knappe Woche nach dem rassistischen Mord an dem Schwarzen Amerikaner George Floyd durch Polizeibeamte in Minneapolis – hier und jetzt sollte vielleicht besonders deutlich gesagt werden, dass Museen eben keine neutralen Orte sind. «Museums are Not Neutral», oder wie der Rassismusforscher Ibram Kendi zur Notwendigkeit, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, sagt, «there’s no in-between safe space, neutrality in this struggle – either we’re producing this racist society or we’re struggling against it.» Museen sollten, wo immer möglich, in all diesen gesellschaftlichen Debatten Position beziehen und eine eigene Position entwickeln.

 

Nach dem Shut Down auch kultureller Institutionen aufgrund der Corona-Epidemie werden Ausstellungen, Universitäten und Veranstalter ihre Türen wieder öffnen. Rechnen Sie damit, dass die unfreiwillige Zäsur im Selbstverständnis des Museums Spuren hinterlässt? Welche positiven Effekte könnte sie haben?

Die Effekte sind schon jetzt spürbar. 90 Prozent der Museen mussten ihre Türen vorübergehend schliessen, 13 Prozent werden diese laut einer Studie der UNESCO und von ICOM aufgrund der ökonomischen Einschnitte vielleicht nie wieder öffnen können. In afrikanischen Ländern und den «Small Island Developing States» hatten überhaupt nur 5 Prozent der Museen die Möglichkeit, Inhalte online bereitzustellen. Die Corona-Pandemie wirkt also auch mit Blick auf Museen wie ein Brennglas der ungleichen ökonomischen Bedingungen von Kulturinstitutionen, auch in globaler Perspektive.

Interessant ist bei aller Prekarität, die die Schliessung für Museen auch in unserem hiesigen Kontext bedeutet, zu welchen neuen Formen der Ansprache die vorübergehende Schliessung geführt hat. Mir erscheinen dabei besonders die Formate interessant, die gar nicht erst versuchen, einem «echten» Museumsbesuch möglichst nahezukommen, sondern neue Wege gehen und Perspektiven anbieten, die man auch bei einem gewöhnlichen Ausstellungsrundgang gar nicht einnehmen kann. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele der virtuellen Formate, die uns unter dem Hashtag #closedbutopen angeboten wurden und werden, nachhaltig die Kanäle bereichern, die Museen zur Ansprache ihrer Öffentlichkeiten nutzen. Meine grosse Hoffnung ist, dass der Shutdown auf längere Sicht den Effekt hat, dass Museen sich zu mehr grundlegender Hinterfragung ihrer institutionellen Routinen trauen. Die in Kanada lehrenden Museumswissenschaftlerinnen Erica Lehrer und Shelley Ruth Butler haben hier ein paar sehr schöne Vorschläge gemacht: Museen könnten Design-Software bereitstellen, die Ausstellungen online umkuratieren lassen. Oder mit denen die Objekttexte umgeschrieben werden können. Und noch grundlegender: Wenn Archive, Sammlungen und Bestandskataloge besser zugänglich gemacht werden würden, auch online und open source, dann könnten Interessierte auf der ganzen Welt mit ihnen arbeiten. Eine alles andere als neue Forderung, die aber in der gegenwärtigen Situation eine andere Relevanz erhält.

 

In Ihren Publikationen und Ihrer Arbeit am Humboldt Labor plädieren Sie für mehr Experiment, Risikobereitschaft, ja «Fragilität» in der kuratorischen Praxis. Braucht die globalisierte Welt im Format von Ausstellungen neue Zugänge, neue Kategorien, eine andere Sprache vielleicht?

Die Institution Museum wie auch das Medium Ausstellung – vor allem, wenn wir hier an die Weltausstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts denken – haben ja historisch sehr viel mit der Welt zu tun und wie wir auf sie blicken, wie wir sie einteilen und bewerten, ja mehr noch: wie wir sie auf bestimmte Weisen erschaffen. An der Unterteilung in «The West and the Rest», wie Stuart Hall, Vertreter der britischen Cultural Studies, es prominent formuliert hat, sind auch massgeblich die Museen mitverantwortlich. Trotz einer langen Geschichte der Kritik und der Anfechtungen ist das Museum mit all seinen Ausschlüssen und seinen machtvollen Repräsentationen der Welt noch immer ein Ort der Permanenz. Ein Ort, der mit seinen bürokratischen Strukturen und tradierten Sammlungsverständnissen, seinen allzu oft auf Dauer angelegten Ausstellungen zu wenig in der Lage ist (und vielleicht auch oft nicht sein will), auf aktuelle Debatten zu reagieren und selbst Ort der Debatte zu sein. Mir ist ein Vortrag der britischen Kuratorin und Autorin Sumaya Kassim sehr präsent, die auf einer Stuttgarter Tagung zur Zukunft des Museums vor einigen Monaten fragte: «How can we teach urgency to museums?» Sie bezog sich auf die Dringlichkeit für Museen, sich sowohl zur aktuellen gesellschaftlichen Anforderung der Dekolonisierung von Institutionen zu verhalten als auch sich mit den eigenen Ausschlüssen auseinanderzusetzen.

Wenn ich also für mehr Risikobereitschaft und Fragilität in der Museumspraxis plädiere, wie ich es vor einiger Zeit in einem Blogbeitrag zur Zukunft ethnologischer Museen getan habe, dann meine ich damit auch, dass sich Museen stärker als experimentierende und damit auch als lernende Institutionen begreifen sollten. Das schliesst mit ein, dass sie sich kollaborativen Formaten öffnen sollten, die die kuratorische Deutungshoheit nicht allein beim Museum verortet. Und die, wie Natalie Bayer und Mark Terkessidis es bezüglich einer «antirassistischen Praxeologie des Kuratierens» formuliert haben, die Aufmerksamkeit stärker vom Endprodukt der Ausstellung hin zur Entstehungsweise, also zum Prozess des Kuratierens, lenkt. Daraus folgt auch, dass wir lernen sollten, Ausstellungen als ein Format zu begreifen, das auch dann nicht ‹fertig› ist, wenn die Ausstellung längst eröffnet ist.

 

Nach innen dürfen wir also von Museen ein erhöhtes Mass an Selbstreflexion erwarten. In ihrem architektonischen Auftritt halten auch neue Museumsbauten oft ihre repräsentative Geste aufrecht. Wie könnten sich innovative Modelle musealer Nachdenklichkeit in der Architektur niederschlagen?

«Innovative Modelle musealer Nachdenklichkeit» ist eine wunderbare Formulierung. Und sie steht in so starkem Kontrast zur Realität vieler Museumsbauten, deren monumentale Architektur an den Begriff des «civilizing ritual» denken lässt, den die Kunsthistorikerin Carol Duncan vor langem in die Museumsdebatte eingebracht hat. Wir reden über neue Bildungskonzepte und über Dekolonisierung von Museen, doch deren repräsentative Gesten sprechen oftmals noch immer eine andere Sprache. Vielleicht sollten wir zuerst ein Bewusstsein über die Rolle erlangen, die Architektur im musealen Spiel der Bedeutung einnimmt. Zusammen mit drei Kolleginnen habe ich vor einigen Jahren den Band Museumx herausgebracht, dessen Beiträge sich den räumlichen Dimensionen widmeten, die wir sehr oft gar nicht auf dem Schirm haben, die aber zum Museumsalltag fest dazugehören: neben den Ausstellungssälen auch der Eingang, die Treppen, der Museumsshop oder der Garten. Das Basler Museum der Kulturen ist hier übrigens ein besonderes Beispiel für den Bruch mit einem klassischen Museumsprinzip des Aufstiegs in die ‹heiligen Hallen› des Museums: Seit dessen Umbau gehen die BesucherInnen durch den Innenhof zum Eingang hinab anstatt hinauf. Das ist ein ganz anderes Gefühl. In unserer Auftaktausstellung des Humboldt Labors wiederum wollen wir mit der Berliner Forschungsgruppe «ArchitekturenExperimente» in einem über drei Jahre angelegten Forschungsprojekt unsere eigene Ausstellung unter die Lupe nehmen: Wie wirken sich die räumlichen Strukturen, die Architektur und die Szenografie auf die Wahrnehmung und Bewegungen der BesucherInnen aus? Wie ‹funktioniert› das Setting vielleicht auch ganz anders, als wir KuratorInnen uns das gedacht haben? Und was können wir aus den Analysen für die zukünftige Ausstellungsgestaltung lernen?

 

Die heterogenen Ansprüche einer multikulturellen, vielsprachigen Gesellschaft fordern die Institution Museum schon seit einiger Zeit heraus. Könnten «Museen der Welt» zu jenen Orten avancieren, die trotz oder gerade wegen ihrer kolonialen Wurzeln den eurozentrischen Blick auf den Globus unterwandern?

Das ist aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit für diesen Typ Museum, zu neuer Relevanz zu gelangen. Die kolonialen Wurzeln der Völkerkundemuseen verpflichten dazu, über Strategien und Wege einer «Dekolonisierung» nachzudenken. Das ist zugegebener Weise ein grosses und in letzter Zeit etwas inflationär verwendetes Wort, und es wird mitunter in einer Lautstärke ausgesprochen, die nicht im Verhältnis zu den vielerorts doch eher zögerlichen Schritten der Museen steht. Die australische Kulturgeographin Jane Jacobs sprach schon in den 1990er Jahren von dem «institutionelle Krach», den Museen mit ihrer angestrebten selbstreflexiven Wende mitunter machen. Und trotzdem ist diese Reflexion unabdingbar, und zwar auf allen Ebenen. Über die Wichtigkeit, die Erwerbsgeschichten der Sammlungen aufzuarbeiten, besteht ja Einigkeit. Aber was folgt daraus? Wie kann Rückgabe konkret aussehen? Auch die eurozentristischen Narrative und ‹blind spots› in den Ausstellungen müssen reflektiert werden. Genauso die administrativen Strukturen der Museen und ihrer organisatorischen Überbauten. Denn die Zusammenarbeit mit transnationalen Kooperationspartnern birgt Herausforderungen, die wenig reflektiert werden, gerade wenn es sich um Angehörige der so genannten «Herkunftsgesellschaften» handelt. Der Provenienzforscher Ilja Labischinski hat hier kürzlich einige wichtige Punkte aus seiner Arbeit für eine Ausstellung im Humboldt Forum zur Diskussion gestellt. Ethnologische Museen müssen hier noch viel lernen, und vielleicht ist das Selbstverständnis als lernende Institution die beste Voraussetzung, dass die Museen langfristig zu gesellschaftlich relevanten Orten der Reflexion und vielleicht eben auch Unterwanderung eurozentrischer Narrative und Strukturen werden.

 

Welches Publikum soll idealerweise an diesem Wandel teilhaben? (oder: Wird die Kategorie «Publikum» sogar hinfällig?)

Wir müssen unseren Begriff vom «Publikum» auf jeden Fall überdenken. In Ausstellungsplanungs-Kontexten ist oft zu hören: «Versteht das denn unser Publikum dann überhaupt noch?» Der Singular von «unser Publikum» zeigt, dass es hier weniger um eine diverse BesucherInnenschaft geht, sondern Publikum eher als eine homogenisierende Kategorie funktioniert. Und es tritt eine statische und eindirektionale Vorstellung von Bildung und Vermittlung zutage, die ich für problematisch halte: Ich will etwas vermitteln und das Publikum soll das bitte auch so verstehen, wie ich es meine. Es geht demgegenüber doch vielmehr darum, die BesucherInnen als deutende ‹Ko-ProduzentInnen›, als AkteurInnen wahrzunehmen mit ganz eigenen Interessen und Rezeptionsweisen, die meinen vielleicht auch mal zuwiderlaufen – und genau dann wird es ja spannend. Ein Publikum ist nicht einfach ‹da draussen›, man kann es nicht einfach ‹abholen›. Wenn wir stattdessen davon ausgehen, dass sich Institutionen ein Publikum aktiv schaffen, dann bedeutet dies ja eine ganz essenzielle Ressource. Dann ist das Publikum nämlich kein passiver Rezipient mehr, sondern ernstgenommener aktiver Partner, der an diesem Wandel teilhat und in der Lage ist, die Institution mit zu verändern.

 

Welche Konsequenzen haben all diese Wünsche an langfristig glaubwürdige museale Dispositive auf die Ausbildung von angehenden EthnologInnen, KuratorInnen, KulturmanagerInnen?

Das reflexive Selbstverständnis muss sich auf allen Ebenen vollziehen, nicht nur auf der inhaltlichen bzw. kuratorischen – sich also nicht nur auf Ausstellungsthemen und Programme beziehen. Wir sollten stärker auf dem Schirm haben, dass auch die Verwaltungsstrukturen – und eben die Menschen, die in ihnen arbeiten! – ein zentraler Bestandteil des Kulturbetriebs sind, ohne den ohnehin nichts geht. Wir können nicht im ‹frontend› die institutionelle Praxis reflektieren, das ‹backend› dabei aber aussen vorlassen. Dies erscheint mir für die Ausbildung enorm wichtig. Und natürlich sollten die Studierenden nicht nur interdisziplinär, sondern auch über die Sparten hinweg lernen und im Austausch sein. In meiner Lehre am SKM-Studiengang «kulturreflexives Management» empfinde ich diesen spartenübergreifenden Austausch als etwas ganz Besonderes, von dem auch ich viel lerne. Für diese Erfahrung bin ich jedes Mal aufs Neue dankbar, vielleicht ist das hier ein guter Ort, um dies auch mal loszuwerden!