Technologie und Digitalisierung sind keine einfachen Themen für Museen. Dies hat mit den unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Rollen des Individuums in dieser Transformation zu tun. Die Reflexion über die eigene Rolle innerhalb dieser Entwicklung kann den Museen helfen, ihre Digitalisierungsstrategien zu gestalten und vielleicht sogar neue Zugänge und Möglichkeiten zu finden, um das Museum als wichtigen Ort der digitalen Transformation zu definieren.
Die Motivationen und Beweggründe zur Schaffung und zum Design von Museen und ihren Ausstellungen unterliegen vielfältigen und komplexen Einflüssen. Diese haben – so der US-Historiker Peter Gran – vordergründig mit dem historischen politischen Entwicklungspfad der jeweiligen Gesellschaften zu tun – also etwa dem britisch-demokratisch-bourgeoisen oder dem russisch-sowjetischen Weg. Beide Wege führen zu sehr unterschiedliche Anforderungen an ihre Museen. Jedenfalls haben Technologie und Digitalisierung als Museumsthemen und die Art und Weise, wie diese in der jeweiligen Gesellschaft rezipiert werden, ebenfalls erheblichen Einfluss. Hier erkannte schon der Kulturbeobachter und Architekt Lewis Mumford in den 1930er Jahren zwei wichtige Phänomene: So führt der technologische Fortschritt paradoxerweise zu einer Wiederentdeckung der Traditionen und auch des Nationalismus, quasi als Gegenreaktionen des verlorenen und entkulturalisierten Individuums. Mumford deutete hier etwa die Nationwerdung Deutschlands im späten 19. Jahrhunderts als direkte Konsequenz des industriellen Fortschritts an. Es folgte in diesem Kontext dann eine Gründungswelle an Heimatkundemuseen und es verstärkte sich die Funktion der Museen als eine Art «temporalem Anker». Laut der Kulturanthropologin Sharon Macdonald hält dieser Fokus selbst bei Technikmuseen an: Der unablässige Fortschritt führe dazu, dass immer schneller, immer mehr Dinge und Praktiken der Vergangenheit anheimfallen und so musealisiert werden.
Gleichzeitig – und für unsere Betrachtung fast noch wichtiger – bemerkte Mumford, dass dieser technologische Fortschritt in den jeweiligen Gesellschaften nicht zu neuen Diskursen führen muss: Der Fortschritt entledigte sich schwieriger Fragen, wie etwa über Freiheit und Gleichheit, indem er ein Mehr an günstigen (Massen-)Gütern schuf und sich durch die verbesserten Konsummöglichkeiten und Einkommensbedingungen zu legitimieren suchte: «Die Werte des technologischen Fortschrittes sind es, keine Werte zu haben». Diese Beobachtung muss auf den ersten Blick überraschen und wird erst dann akzeptabel, wenn man etwa erkennt, dass selbst die antikapitalistischen sowjetischen Revolutionäre die hierarchische Organisationsstruktur der Fabrik unangetastet liessen.
Neben der Tradition der Musealisierung macht es gerade diese vermeintliche politische Neutralität schwer, das Thema der Technik beziehungsweise der Digitalisierung zum Gegenstand eines Museums zu erklären. Und auch die Rolle des Individuums im technologischen Fortschritt bleibt weiterhin widersprüchlich: Es ist Nutzniesser*in, aber zugleich auch abhängig und dominiert von diesen Techniken (und ihren Besitzer*innen). So lassen sich etwa drei verschiedene Ebenen und Zugänge des Einzelnen zum Thema der Technologietransformation ableiten:
Die Rolle als Adaptierer*in oder Anpasser*in: Dies ist wohl der geläufigste Standpunkt. Digitalisierung ist eine Urgewalt, welche über das Individuum kommt und von diesem einerseits genutzt werden will und zum anderen auch gewisse Anpassungen in Verhaltensweisen und sogar neue Fertigkeiten erfordert. In einer Studie über die Verwendung des Begriffs «Digitalisierung» durch deutsche Medien konnten die Autoren etwa feststellen, dass digitale Transformation vor allem als etwas Vorgefertigtes wahrgenommen und beschrieben wird und wenig Augenmerk auf die Möglichkeiten der Beeinflussung dieses Prozesses gelegt wird.
Die Betroffenen müssen hier also vor allem erkennen, welcher Art die technologischen Änderungen sind und sich anpassen beziehungsweise neue Fähigkeiten und sogar neue Arbeitsrollen erlernen. Und das vielleicht sogar ausserhalb der klassischen Bildungspfade als jemand, der das Netz nutzt, um dort Lerninhalte zu suchen und kostenfrei herunterzuladen (www.zeit.de).
Die Rolle als Innovator*in: Technologischer Fortschritt bedarf des Zutuns des Individuums. Gerade weil die klassische Hierarchie bei Innovationsprozessen oftmals überfordert ist, muss das Individuum im Zuge neuer Arbeitsstrukturen mitanpacken, innovativ sein und der Hierarchie – welche sich weiter behaupten will – im Anschluss an die Innovationsleistung seine Ideen und Designs übereignen (im wahrsten Sinne, da die Arbeitsverträge in der Regel vorsehen, dass diese im Besitz der Hierarchie bleiben). Das Individuum soll einerseits also Mitglied der Hierarchie bleiben, aber gleichzeitig in definierten Freiräumen agil, spontan und interdisziplinär denken und agieren. Um diese Widersprüche zu meistern, braucht es vermittelnde Managementtechniken und «Räume» im Sinne von offenen Innovationsprozessen und -Plattformen, welche diese widersprüchliche Doppelrolle berücksichtigen. (www.papers.ssrn.com)
Die Rolle als Produzent*in: Dies ist wohl die schwierigste Rolle. Hier würde das Individuum als Mitproduzent*in und Miteigentümer*in den technologischen Fortschritt mitgestalten. Diese Rolle ist theoretisch möglich, aber eigentlich nicht vorgesehen. Eine Demokratisierung der Organisationen ist zwar immer wieder versucht worden (in Deutschland etwa im Zuge gesetzlicher Einführung der Mitbestimmung in den 1970ern im Rahmen der von den Gewerkschaften ersonnenen «arbeitsorientierten Einzelwirtschaftslehre»), war aber de facto nicht durchsetzbar. Generell konnten die Gewerkschaften, die immer wieder versuchten, Einfluss auf die Technisierung der Arbeit zu erlangen, diese im besten Fall nur verlangsamen, aber nicht grundsätzlich ändern. Daran hat auch die Digitalisierung nichts geändert. Zwar gab es kurz die Hoffnungen auf neue partizipative Arten der Technikproduktion – man denke an die Open Source Bewegung –, aber diese wurden schnell wieder in die Hierarchie eingegliedert und genossenschaftliche Modelle bekamen keine Mittel von Finanzinvestoren. Das Wort «sozial» in «Sozialen Medien» erzeugte also kurzfristig Missverständnisse und Alternativen, die aber wieder zugestellt beziehungsweise kooptiert wurden.
Ein Museum also, welches sich mit Digitalisierung beschäftigen oder sogar – wie auch vom Autor erhofft – ein Ort sein will, der Menschen in die digitalen Transformationen einbindet und ein Ort der Veränderungen sein will, muss sich dieser unterschiedlichen Rollen bewusst sein. Und es ist wohl nicht völlig abwegig zu behaupten, dass sich das Museum zuvor wohl ebenfalls transformieren muss, je intensiver es die Rolle des Individuums in diesem Prozess unterstützen will.
Die Rolle des Museums, Individuen bei der Adaptierung zu unterstützen, bereitet vielleicht die geringste Anpassungsnotwendigkeit. Hier werden Artefakte und Verfahren der Digitalisierung dem Individuum nähergebracht und erklärt, um bei der digitalen Anpassung Anleitung zu geben. Hier wird Corona wohl dazu führen, dass fast alle Museen, mehr recht als schlecht, ihr Angebot digitalisieren oder sogar versuchen, die Räume des Museums zu verlassen, weil die Pandemie einen Besuch nicht gestattet. Dies ist dann aber «nur» eine andere Art der Vermittlung des ansonsten klassischen Ansatzes und es bleibt fraglich, wie etwa eine reine Virtualisierung beim Publikum ankommt. Für ein junges Publikum ist ein Streaming des traditionellen Angebots eher uninteressant, für das ältere vielleicht noch zu weit weg?
Die Rolle des Besuchers und der Besucherin als Innovator*in verlangt dem Museum einiges mehr ab. Hier kann der Besucher etwa in Workshops oder Laboratorien selbst Lösungen mitentwickeln. Siehe dazu beispielsweise das MAK LAB APP. Die innovativsten Museen sind wohl auf dieser Ebene zu finden. Sie verlängern ihre Angebote, indem sie Communities aufbauen, eigene Apps hacken und Workshops und Laboratorien zu einzelnen Themen zusätzlich zum klassischen Angebot aufbauen. Hier wird es sicherlich einigen innovativen Museen gelingen, sich zu positionieren und sich so eine Rolle zu erarbeiten, die in der digitalen Transformation Beachtung findet. Dabei ist zu beobachten, dass sich Museen ebenfalls mit den entsprechenden (agilen) Managementtechniken auseinandersetzen müssen, da sonst der Spagat beziehungsweise die hybride Parallelität zwischen neu und alt kaum gelingen wird. Siehe dazu auch das Interview mit dem Direktor des Rijksmuseums Taco Dibbits.
Die Rolle als Produzent*in: Dies ist wohl die komplexeste und disruptivste Rolle. Man könnte sich die Frage stellen, ob es überhaupt die Aufgabe von Museen sein kann, Gegenpositionen oder gar eigene Einflussmöglichkeiten im Kontext der Digitalisierung zu erarbeiten. Auf der anderen Seite kennt gerade die europäische Geschichte solche Orte, in denen Gegenbewegungen in Gang gesetzt wurden: So waren es im 13. Jahrhundert Mönche und Klöster, die einer verrohten und gewalttätigen Gesellschaft Wissen und Kultur entgegensetzen konnten. Der Vergleich hinkt natürlich, aber vielleicht ist ein kleines Kantonsmuseum oder eine Bibliothek der Ort, an dem eine genossenschaftliche Mobilitäts- oder Vermarktungsplattform für lokale Erzeugnisse entwickelt wird? Das Museum wird hier als Ort der Veränderungen genutzt: Bewegungen brauchen nach wie vor physische (und inspirierende) Räume, um stabile Beziehungen aufzubauen und zu verhandeln und so den Leseraum, das Auditorium oder ein Labor ausserhalb der regulären Öffnungszeiten zu nutzen. Siehe dazu das zeitgenössisches Kunstmuseum MUDAM in Luxemburg.
Diese Rolle – man merkt es sofort – hat wenig mit den herkömmlichen Aufgaben dieser Institutionen zu tun, sondern wird für die Dienste an einer Community adaptiert und erfüllt damit eine urdemokratische und partizipative Aufgabe, die aber kaum im Aufgabenprofil einer Museumsdirektorin oder eines -managers zu finden sein dürfte.
Diese drei Stufen der Transformation von Museen – Digitalisierung von Inhalten, Raum für Co-Innovation und Ort für Veränderungen – werden wohl von Museen weltweit, zielgerichtet oder nicht, diskutiert und analysiert. Es macht sehr viel Sinn, die ganze Bandbreite an Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, bis hin zu einer Position, an der das Museum eine völlig andere Rolle spielen kann; nämlich jene als Ort für partizipative Veränderung.