Wohin geht’s? Positionen und Beiträge
zum Arbeitsfeld Kultur & Management

Begrenzung verloren – Wie ein Theaterbetrieb seinen Spielbereich neu definiert

Innovation und Change im Kulturmanagement – diese CAS-Weiterbildung beschäftigt sich mit neuen Herausforderungen für und aktuellen Entwicklungen in Kulturorganisationen. Wie die digitale Welt ein fester Teil der Angebotsstruktur eines Theaters wurde, beschreibt Sonja Eisl, Teilnehmerin des diesjährigen CAS, in ihrem Blogbeitrag. Sie ist Co-Leiterin des Kleintheater Luzern, welches jüngst eine «Digitale Bühne» geschaffen hat, mit der Virtual Reality Erlebnisse, Livestreamings und digitale Gastspiele Einzug ins Programm hielten. Was Innovation, Wandel, VUCA, Agilität und VR mit Theatererleben zu tun haben, lesen Sie im folgenden Beitrag.

 


Position

Um Inhalte mit einer VR-Brille nutzen zu können, muss man zunächst seinen Spielbereich definieren, also den physischen Rahmen abstecken, innerhalb dessen man sicher agieren kann. Werden die Rahmenbedingungen zu stark verändert, verliert das VR-Headset die Orientierung und muss neu kalibriert werden. In diesem Fall erscheint die Nachricht «Begrenzung verloren». Im Kleintheater Luzern beschäftigen wir uns schon länger mit unserem Spielbereich und seiner Begrenzung sowie unserer Lust und den Chancen zu einer möglichen Entgrenzung [1]. Eine solche Grenzerweiterung geschieht momentan mit dem Projekt «Digitale Bühne», das uns – genau wie VR, als ein wichtiger Teil des Projektes – scheinbar ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten katapultiert. Ich schreibe bewusst scheinbar, denn der Weg ins digitale Wunderland ist zuweilen eine Schotterpiste. – Eine analogische Annäherung an Change Management am Beispiel eines digitalen Transformationsprojektes, hervorgegangen aus dem Stillstand der Kultur im Winter 2021.


Warum sehe ich bei der Raumeinrichtung «Begrenzung verloren»? [2]
Weil ein unvorhersehbares Ereignis eingetroffen ist, das unsere ehemals überschaubare (Theater-)Welt im Handumdrehen und für Monate aus den Angeln gehoben hat. Unser Haus hat einen Saal mit 220 Plätzen, ein Foyer und eine stets gut besuchte Bar. Diese Rahmenbedingungen galten vor Beginn der Pandemie. Ab März 2020 beginnt ein nervenaufreibendes Tetris-Spiel mit den ständig wechselnden Platzkapazitäten. Plexiglas und Absperrbänder wie am Flughafen schaffen neue Schutzsektoren. Besucher:innen werden (um)geleitet, ihre Tickets umgebucht. Der Lockdown schliesslich bringt den Betrieb über Monate zum Erliegen. Bühne und Theatersaal bleiben leer, das Phänomen Theater – die ungeschriebene Verabredung zwischen zwei physisch anwesenden Menschengruppen – hört auf zu existieren. Schöne neue Vuca-Welt.

 


Was kann ich tun, wenn ich meine Controller in der VR nicht sehen kann?

Schwierig, schwierig. Der Mensch ist ein soziales Wesen, er orientiert sich am Rudel und/oder an der Speerspitze. Der homo ludens braucht ein Gegenüber damit sein Tun einen Sinn ergibt. Das Gegenüber ist plötzlich immer zu Hause (am Brotbacken) oder am Spazieren mit dem (fiktiven) Hund. Das Theaterteam ist im Homeoffice zum Müssiggang verdonnert. Niemand sieht sich. Game over?


Was bedeuten die LEDs am Akku?

Gefahr im Verzug: der Gesundheitszustand ist kurz davor ins Arge zu kippen, Tiefentladung droht! Eine neue Idee, eine neue Spielanlage muss her: Wir erproben die Weiten von Teams, Zoom und Co. und starten unter dem Motto «Zukunft jetzt!» eine Ideenwerkstatt. In agilen Teams entwickeln wir gemeinsam in verschiedenen Projekten unser Theater weiter. Eines davon hat zum Ziel, möglichst rasch wieder in Kontakt mit unseren Stakeholdern zu treten und Theater auch bei geschlossenen Toren stattfinden zu lassen: Willkommen digitale Spielwiesen, nice to meet you! ich was not yet in virtual reality nach virtual reality wulld ich laik du go. wer de people arr so ander so quait ander denn anderwo. ich was not yet in vr nach vr wulld ich laik du go. als ich anderschdehn mange lanquidsch will ich anderschdehn auch lanquidsch do. [3]


Wie kann ich Unschärfe oder Schwindelgefühl verhindern?

Am besten einen Punkt fixieren. Mit Vorteil nur einen auf einmal. Scharfstellen und weiter. Da capo al fine, hallo iterative Schleife! Eine neue Ära bricht an: Wir sind Lernende und Lehrende gleichermassen. Kaum jemand hat eine Ahnung. Frustration. Informationsmangel. Wir bringen Steine ins Rollen ohne zu wissen, wo es hingeht. Es ist anstrengend und verwirrlich. Und es macht Spass. Wie eine neue Sprache lernen und gleichzeitig andere darin unterrichten. Erste digitale Testläufe, begleitet von einer Charmeoffensive mit analogen Care-Paketen bei unserem neugierigen, aber noch skeptischen Publikum. Weiterbildungsworkshops auf Zoom mit einer digitalen Dramaturgin. Notiere: Berufe mit Zukunft, aktuelle Trends und Perspektiven.

 


Was kann ich tun, wenn mein Inhalt abstürzt?

Aufstehen. Weitermachen. Scheitern gehört zur Kunst. Das ist im digitalen Raum auch nicht anders. Dieses neue Spielfeld ist zu gut, um die Finger davon zu lassen. Denn es schafft mit seinen Möglichkeiten eine Vernetzung all unserer bisherigen Spielwiesen; und mehr.


Mein Headset vergisst immer wieder meine Begrenzung. Was kann ich tun?

Nicht länger daran festhalten, sondern eine neue Begrenzung schaffen. Die bisherigen Rahmen werden neu gesteckt: Wir streamen Live-Vorstellungen vor Ort und erreichen damit nicht nur geografisch ein grösseres Einzugsgebiet. Unser Spielfeld «kulturelle Teilhabe» leuchtet ebenfalls im Menü auf: Die Zuschauerin mit Hörbehinderung meint, dass sie jetzt endlich ihre Lieblingsshow in einer guten Lautstärke und Qualität schauen kann, weil sie ihr Hörgerät direkt mit dem Computer verbindet. Unsere Sponsorin, ein Privatspital, nimmt die digitalen Angebote in die Tagespost für ihre stationären Patient:innen mit auf. Unser Spielfeld Soziokultur ruft ein «Büro für digitale Kompetenzen» als Anlaufstelle ins Leben. Die HSLU und Theaterschaffende forschen mit uns an den Möglichkeiten von VR und Theater, unterstützt u.a. von der Innosuisse.[4] Und wer weiss, vielleicht ergibt sich irgendwann ja eine ökonomisch interessante Innovation daraus.


Was kann ich tun, wenn mein Headset nicht reagiert?

Pause machen.

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[1] Zwei Beispiele: Als ehemals klassisches Kleinkunsthaus sprengen wir zusammen mit den Koproduktionsgruppen der freien Theaterszene heute schon mal unseren Bühnenkontext. Mit der Verpflichtung zum Label Kultur Inklusiv der Pro Infirmis holen wir heute Menschen mit an Bord, die früher öfter aussen vor waren.
[2] Diese Frage und alle weiteren stammen aus Support >Lösungen und FAQs des VR-Headsets VIVE Focus 3 (aufgerufen am 16.04.2022)
[3] Frei nach dem Gedicht Calypso von Ernst Jandl in Jandl, E.: Laut und Luise. Frankfurt am Main 1990.
[4] Die erste Etappe des VR-Labs wurde von einem Filmteam dokumentiert.

Bild: 1) Dario Lanfranconi, 2) Kleintheater Luzern, 3) Melody Chua